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Wildpferde an der Ostsee

200 Wildpferde mitten in Schleswig-Holstein. Wir waren überrascht, als uns der freie Journalist und Naturfotograf Sebastian Conradt davon erzählte. Und fasziniert, als wir seine Aufnahmen gesehen haben. Klar, dass  wir euch die Geschichte der Wildpferde an der Ostsee nicht vorenthalten wollten.

Rivalitätskämpfe sind kurz, können aber sehr heftig werden.

Text und Fotos: Sebastian Conradt, www.sebastian-conradt.de

Donnernd wirbeln unzählige Hufe große Staubwolken auf. Lautes Schnauben mischt sich unter Möwengeschrei und Meeresrauschen. Eine Herde Wildpferde galoppiert vorbei und verliert sich in der Weite der Küstenlandschaft. Auf der Geltinger Birk dienen frei lebende Konikpferde als tierische Landschaftspfleger zur Renaturierung eines der attraktivsten Naturschutzgebiete in Schleswig-Holstein. Und sie machen ihre Arbeit gut…

„Die Naturschutzidee, die dahintersteckt, ist ganz einfach“, so Gerd Kämmer vom Verein Bunde Wischen, der zahlreiche Koniks in Schleswig-Holstein betreut. „Beweidung ist ein komplett natürlicher Prozess. Und Beweidung ist der Schlüsselfaktor für einen großen Artenreichtum.“ So wie in Afrika tausende von Zebras, Gnus und Elefanten durch Fraß und Vertritt die landschaftliche Vielfalt der Savannen erhalten, so sollen Koniks hierzulande die reichhaltige Vegetationsstruktur der norddeutschen Natur mit ihrem Mosaik an verschiedenen Lebensräumen wieder herstellen.

„Wir kehren damit zu Verhältnissen zurück, wie sie noch vor wenigen tausend Jahren in Mitteleuropa natürlicherweise bestanden. Und wie sie vor wenigen hundert Jahren auch durch die menschliche Landbewirtschaftung noch geprägt wurden“, erläutert Kämmer. Damals, zum Ende der letzten Eiszeit, waren Wildpferde über weite Teile Europas verbreitet. Höhlenmalereien in Frankreich und Spanien zeugen davon noch ebenso wie Felszeichnungen in Skandinavien. Gemeinsam mit Mammuts und Wollnashörnern waren sie ein wichtiges Jagdwild des Menschen. Vor etwa 6000 Jahren wurde das Pferd domestiziert, und seine Wildform starb allmählich aus. Doch auch das Hauspferd trug in Zeiten der Allmendewirtschaft, als der Mensch mit Ackerbau und Viehzucht in Wald und Offenland auszog, zu einem Patchwork aus Wiesen, Hochstaudenfluren und Gebüschen, Heideflächen, Hochmooren, Röhrichten und lichten Hutewäldern bei. „Das hat noch ähnlich ausgesehen wie die natürlichen Landschaften“, so Kämmer. 

Und zu diesem Landschaftsbild wollen Naturschützer wie Gerd Kämmer und Nils Kobarg von der Integrierten Station Falshöft zurück. Seit vielen Jahren betreut Kobarg die Halbinsel Geltinger Birk am Ausgang der Flensburger Förde, die in ihrer heutigen Form erst im 17. Jahrhundert entstanden ist. Die Ostsee trug seinerzeit Sand und Geröll an den südlich gelegenen Steilküsten bei Falshöft ab und lagerte dieses Material nordwärts in Form von Strandwällen wieder an. So wuchsen Nehrungshaken in die Flensburger Förde, die schließlich die vorgelagerte Moräneninsel Beveroe (Biberinsel) erreichten und ein großes Flachwassergebiet, das Beveroer Noor, einschlossen. Noch heute sind diese typischen Kräfte der Ausgleichsküste aktiv: Die Nordspitze der Birk, der Birknack, wächst weiter ins Meer hinein. Einigen Birkenhainen verdankt das Gebiet, das heute fast vollständig im Besitz der Stiftung Naturschutz Schleswig-Holstein ist, seinen Namen. 

Mit dem Ziel der Landgewinnung wurde im 19. Jahrhundert das Beveroer Noor durch einen künstlich geschaffenen Deich vollständig von der Geltinger Bucht abgetrennt. Als Gewässer übrig blieb nur das Geltinger Noor, eine kleine, fast geschlossene Brackwasserbucht in der Flensburger Förde. Die Flächen im Inneren der Birk wurden mithilfe von Erdholländer-Windmühlen entwässert, um dort Landwirtschaft betreiben zu können. Die 1824 errichtete Mühle „Charlotte“ steht noch heute an ihrem Platz und gilt als ein Wahrzeichen des Gebiets. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Entwässerung mit weiteren Deichen und Gräben noch intensiviert. Landwirtschaftliche Flächen und Wälder prägten schließlich das monotone Bild eines einstmals faszinierenden Lagunengebiets. „Um den Strukturreichtum der Landschaft mit ihrem Mosaik an verschiedenen Lebensräumen wieder herzustellen, haben wir hier vor über fünfzehn Jahren die ersten Koniks ausgewildert“, erzählt Biologe Nils Kobarg bei einem Spaziergang über das Weideland. Für sie und einige Highland-Rinder wurde eine Fläche von etwa 500 Hektar als größte halboffene Weidelandschaft Norddeutschlands umzäunt. Die Tiere können in dem Gebiet frei umherziehen, sie leben ihrem natürlichen Rhythmus gemäß und brauchen in der Regel weder Zufütterung noch Pflege. „Die Wildpferde zeigen hier sogar ihr natürliches Herdenverhalten und bringen ihren Nachwuchs völlig selbstständig im offenen Gelände zur Welt“, freut sich Kobarg. 

Koniks sind mit einem Stockmaß von 1,30 m relativ klein.


Koniks sind mit einem Stockmaß von 1,20 bis 1,30 Meter recht klein, aber außerordentlich kräftig und robust. Sie können von Menschen unabhängig leben, werden aber gerne auch als Reit- und Therapiepferde genutzt, da sie ruhig und kaum schreckhaft sind. Doch um den Charakter der Wildpferde und damit die angestrebte natürliche Landschaftspflege zu erhalten, dürfen die Koniks auf den Wilden Weiden nicht an Menschen gewöhnt werden. Spaziergänger können die Tiere von den Wegen aus beobachten, sie sollten jedoch nicht versuchen, sie zu füttern oder anzulocken. 

Hengste, Stuten und Fohlen bleiben das ganze Jahr über zusammen und entwickeln natürliche Familienbande. Erfahrene Leittiere geben ihr Wissen weiter, zeigen dem Nachwuchs, wo das leckerste Futter wächst und unter welchen Bäumen bei Regen und Sturm der sicherste Schutz zu finden ist. Auch pflegen die Tiere gegenseitig ihr Fell und verscheuchen mit ihren Schweifen lästige Insekten. Doch es geht durchaus nicht immer so friedlich zu. Gelegentlich geraten Hengste in heftigen Rivalitätskämpfen um den Harem aneinander, steigen auf und fügen dem Gegner Tritte oder blutige Bisswunden zu. Sind die Verhältnisse geklärt und die Stuten gedeckt, werden nach einer Tragzeit von elf Monaten die Fohlen unter freiem Himmel geboren. Meist erblickt der Nachwuchs im Frühjahr das Licht der Welt, wenn das Nahrungsangebot reichhaltig ist. Jahreszeitliche Verschiebungen sind jedoch nicht selten. So kann es vorkommen, dass ein Fohlen auch mitten im Winter, nachts bei minus 20 Grad geboren wird. „Wenn die Mutter fit ist, schleckt sie ihr Fohlen in ein paar Minuten trocken und das Fell wärmt sofort“, beruhigt Kämmer. „Und wenn es dann gleich die erste Milchmahlzeit mit ordentlich Fettgehalt gibt, dann kann die Heizung anspringen.“ Bis heute ist die Zahl der Koniks in ganz Schleswig-Holstein auf rund 200 Individuen angewachsen. Sie ziehen über die Wilden Weiden am Schäferhaus, im Eider- und Gieselautal, an der Ohlendieksau wie am Wöhrdener Loch und in Wallnau. In großen Weidelandschaften wie der Geltinger Birk teilen sich die Tiere inzwischen auf mehrere Herden auf. Überzählige Pferde werden in andere Naturschutzgebiete oder an Privatpersonen abgegeben. 

„Kleines Pferdchen“ heißt Konik aus dem Polnischen übersetzt. Die Rasse stammt ursprünglich von den mittlerweile ausgestorbenen Tarpan-Wildpferden ab, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Nord- und Osteuropa vorkamen. Die „Pferdchen“ werden heute in Polen gezüchtet und sind bestens an unsere wechselhaften Witterungsbedingungen und mit ihren harten Hufen speziell an nasse Böden angepasst. Und sie sind absolut anspruchslos, was ihre Nahrung angeht. Gras und Kräuter vertilgen sie ebenso wie Sprösslinge von Gehölzen, Brombeerranken oder Baumrinde. Im Winter können Koniks die Wurzeln beispielsweise von Brennnesseln ausgraben und mit den Hufen den Schnee beiseite scharren, um Futter wie überständiges Gras oder im Sommer noch verschmähte, weniger schmackhafte Pflanzen zu finden. Mit ihrem erwünscht unregelmäßigen Fressverhalten verhindern sie das Zuwuchern der Landschaft schonender, als jede Mähmaschine es nur ansatzweise könnte. Auf der Geltinger Birk erobert nun sogar die seltene Küstenheide verlorenes Terrain zurück. 

„Die Koniks sind aber auch gerade deshalb für unser Gebiet so gut geeignet, weil sie Schilf und Binsen fressen“, erläutert Kobarg, der mit der Wiedervernässung weiter Teile der Geltinger Birk bereits den zweiten großen Schritt der Renaturierung gegangen ist. Vor wenigen Jahren wurde von der Ostsee aus ein Rohr durch den Deich gelegt und rund 150 Hektar Land durch ein steuerbares Siel kontrolliert überspült. Eine Woche lang musste das Wasser laufen, um den gewünschten Pegel von einem Meter unter dem Meeresspiegel zu erreichen. Insgesamt 15 zuvor aufgeschobene Erdhügel wurden dabei zu Brut-inseln für Vögel, die vor räuberischen Vierbeinern sicher sind, eine notwendige neue Brücke zum zentralen Naturerlebnispunkt im Gebiet. Das mit dem höheren Wasserstand aufschießende Schilf soll die Wildpferde zurückdrängen. „Und im Winter werden wir durch das Öffnen der Schotten mehrmals eine Sturmflut simulieren! Biologische Vielfalt entsteht schließlich durch Katastrophen“, begeistert sich Kobarg.

Dieses Prinzip, dass nicht der Mensch einen Lebensraum herrichtet (oder sich selbst überlässt), in dem Tiere einen Platz finden, ist recht neu in der naturschutzfachlichen Diskussion. 

Auf den urigen Weideflächen schaffen stattdessen ausgewilderte Pferde und Robustrinder für sich und andere Arten sowie für eine vielfältige Pflanzenwelt ein reich strukturiertes und sich eigenständig entwickelndes Biotop von höchstem Wert. So finden Amphibien wie Laubfrösche, Rotbauchunken und Kreuzkröten im Frühjahr sich rasch erwärmende Tümpel, die nicht von Gehölzen beschattet werden. Kiebitze suchen mit ihren Jungen gezielt die Nähe der großen Weidetiere, weil sich dort der Fuchs nicht hintraut, der allzu gern die noch flugunfähigen Küken erbeuten würde. 

Und der Neuntöter, ein seltener Vogel, brütet im Weißdorngebüsch, das nur im offenen und lichtdurchfluteten Gelände wachsen kann. „Wenn der Neuntöter im Herbst nach Afrika zieht, überwintert er übrigens genau in den Savannen, die unseren Wilden Weiden landschaftlich entsprechen“, weiß Kämmer.

Die Geltinger Birk – perfekte Weidelandschaft für die Konik-Herden. Und das ganzjährig.
Die Geltinger Birk – perfekte Weidelandschaft für die Konik-Herden. Und das ganzjährig.
So könnt ihr die Wildpferde an der Ostsee selber beobachten

Ein rund dreißig Kilometer langes Wanderwegenetz durchzieht die an unterschiedlichen Landschaftsformen reichhaltige Halbinsel Geltinger Birk. Bester Ausgangspunkt ist der Parkplatz an der Mühle „Charlotte“ nördlich von Gelting, an dem ein kleiner Kiosk mit Tischen und Stühlen zum gemütlichen Picknick im Freien einlädt. Toiletten sind ebenfalls vorhanden. Von der Mühle aus sind die Vogelwärterhütte des NABU und die neue Brücke auf diektem Weg zu erreichen. Auf einem gut 13 Kilometer langen Rundweg, der auch mit dem Fahrrad befahren werden kann, gelangt man an die Integrierte Station bei Falshöft, die eine gerade erneuerte, interessante Ausstellung und viele Informationen über das Gebiet bereithält. Die Station ist auch per Pkw zu erreichen, der Strandparkplatz am Ende der Straße Falshöft bietet sich dafür an. 

Integrierte Station Geltinger Birk
Falshöft 11, 24395 Nieby
Tel.: 04643/18 60 90
www.geltinger-birk.de

NABU-Vogelwärterhütte
Tel.: 04643/18 94 74
www.nabu-ostangeln.de

Sebastian Conradt hat für uns schon mal einen Artikel über die unbewohnten Inseln an unserer Küste geschrieben. Den Artikel findet ihr hier.

Dieser Artikel ist im aktuellen SEASIDE Magazin 2018 erschienen, das ihr in unserem Shop portofrei bestellen könnt.